AKTUELL: ZWANGSARBEITER AUF SPURENSUCHE
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Häftling Nr. 227
        

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 Spurensuche

Zwangsarbeiter besuchen Deutschland

 

Diesmal wurden sie im Rathaus begrüßt, am Abend erzählten sie auf einer Podiumsdiskussion, am nächsten Tag ging's zum Einkaufsbummel - ganz anders, als sie es in Erinnerung haben, zeigte sich Neumünster den drei Gästen aus Weißrussland, die zum zweiten Mal in ihrem Leben hier waren. Beinahe 60 Jahre ist ihr erster "Besuch" her. Der war nicht freiwillig: Damals wurden sie in eumünsteraner Betrieben zur Arbeit getrieben, ohne Lohn, billige Zwangsarbeiter. Die Heinrich-Böll-Stiftung in Kiel hatte die Weißrussen in Zusammenarbeit mit der Minsker Stiftung Erinnerung und Verständigung jetzt nach Neumünster eingeladen - zur "Spurensuche", und auch, um Erlebtes weiter zu erzählen.

Gerade zwölf Jahre alt war Kira Nowikowa, als sie in Gomel von Wehrmachtssoldaten mit vielen anderen in Güterwaggons geladen wurde. Ziel des Menschentransports: Neumünster. Fast zwei Jahre lang musste Kira Nowikowa hier in den Hallen von "Land und See" Werkstücke säubern, Flugzeugteile montieren. Nun stand sie nach beinahe 60 Jahren wieder vor dem früheren Eingang zu den Rüstungswerken - still, aber mit wachen Augen: "Dort wohnten die Deutschen, dahinten war ein Lager mit Polen", kommt leise die Erinnerung über die Lippen der heute 71-Jährigen. Und: "Ich kann es gar nicht glauben, dass ich wieder hier bin".
 
 Auf Spurensuche: Tatjana Tarassewitsch (links) und Kira Nowikowa vor dem einstigen Eingangsgebäude von Land und See".
Foto: Peter J. Gollnik


Eben 15 Jahre alt geworden war Tatjana Tarassewitsch aus dem Dorf Podbushje, als sie im Viehwaggon nach Neumünster transportiert wurde. "Ich kam zu einem Bauern, ich glaube, er hieß Heinrich". An Gewächshäuser kann sich die 74-Jährige
erinnern, an Blumenfelder, Gemüsegärten, drei Kühe. Wiedergefunden hat sie den Betrieb nicht mehr, "ein Friedhof war in der Nähe", weiß sie noch, von einer Meierei erzählt sie. Auch Irene Dittrich, Historikerin und kompetente Hilfe bei der Spurensuche, musste passen.

Aleksej Sawitsch, der heute in Grodno an der litauischen Grenze wohnt, erkannte die Backsteingemäuer der "Norddeutschen Lederwerke" sofort wieder. Vorsichtig setzt er einen Fuß nach dem anderen auf die morschen Balken der Brücke, über die er von September 1943 bis zum Kriegsende jeden Tag zur Arbeit getrieben wurde.
Aleksej Sawitsch war im vierten Semester als angehender Lehrer, als ihn Deutsche zum Straßenbau zwangen, später wie Vieh in einen Waggon verluden, Bestimmungsort Neumünster. "Es gab wenig zu essen: Mittags eine dünne Suppe, sonst ein Stück Brot und ein bisschen Margarine, eine Tasse Tee, das war's", sagt er. Und: "Am Wochenende kamen Einwohner aus Neumünster und holten uns zur Arbeit bei sich. Auf dem Weg durften wir nicht auf dem Bürgersteig gehen; begleitet wurden wir von Wachtmeistern mit Knüppeln".
 
 Es sind die selben Balken, auf denen der pensionierte Lehrer Aleksej Sawitsch heute steht: Vor beinahe 60 Jahren wurde er als 19--Jähriger jeden Tag über diese Brücke getrieben, vom Barackenlager
zu den Norddeutschen Lederwerken.
Foto: Peter J. Gollnik


Umgerechnet ein wenig mehr als 2500 Euro hat Aleksej Sawitsch erst vor kurzem als "Entschädigung" für gut eineinhalb Jahre abgepresste Arbeit bei den Lederwerken aus der Zwangsarbeiter-Stiftung der deutschen Wirtschaft ausgezahlt bekommen, ebensoviel wie Kira Nowikowa. Für Tatjana Tarassewitschs Arbeit bei dem Neumünsteraner Bauern gab's nicht einmal 1400 Euro.

Allein in Weißrussland gibt es heute noch 140.000 Menschen, die nach Deutschland verschleppt worden waren - alle über 70 Jahre alt, Überlebende.

PETER J. GOLLNIK

 



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